Vor 20 Jahren – Wahlmanipulation und Ausreisewelle befördern die Erosion eines Staates (Teil 1)

Für viele gilt der 7. Mai als ein Datum, an dem der Beginn der letzten Etappe der »alten« DDR festgemacht werden kann. An diesem Tag fanden Kommunalwahlen, letztmalig nach dem alten Muster des so genannten Zettelfaltens, statt, aber immer weniger DDR-Bürger zeigten sich bereit, das einfach so hinzunehmen. Dennoch verlief die Wahl weitgehend nach den Vorgaben aus der Partei- und Staatsführung, doch als diese auch noch die Ergebnisse – entgegen der Realität – bestimmen wollte, wuchs der Unmut in einem Maße, das weder die SED noch ihr Sicherheitsorgan Stasi erwartet hatten. Aus dem Protest gegen die Wahlfälschung entwickelte sich allmählich eine Bewegung für mehr wirkliche Demokratie, der sich zunehmend auch Leute anschlossen, die bisher den offenen Konflikt mit der Staatsmacht gemieden hatten.

Parallel dazu gewann eine andere, schon seit längerem ständig wachsende Bewegung Schritt für Schritt Massenzulauf – die Ausreisewelle aus der DDR. Ihr schlossen sich all jene an, die die Hoffnung auf Veränderungen im Land längst verloren hatten und ihr Heil nur in einem Neuanfang jenseits der Grenzen sahen. Sie stellten mit ihren Aktionen im In- wie Ausland die Staatsorgane vor immer neue Probleme, die diese letztlich nicht mehr beherrschen konnten. Beides gemeinsam führte zur immer schnelleren Erosion des Staates DDR und damit letztlich zu seinem Untergang.

Über diese Vorgänge entstand ein gutes Jahr später, im Sommer 1990, nachfolgender Text, der die damaligen Ereignisse rekapituliert und in einen größeren Zusammenhang zu stellen versucht. Zwar ist heute das Geschehen vor 20 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.

 

Wahlmanipulation und Ausreisewelle – die Erosion eines Staates (Teil 1)


In den vergangenen 20 Jahren wurde oft versucht, den Eindruck zu erwecken, als wären die Ereignisse des Jahres 1989 wie ein Blitz aus heiterem Himmel über die damalige DDR gekommen.. Besonders Vertreter der ehemaligen Partei- und Staatsführung argumentieren gern, die .Entwicklung wäre nicht vorauszusehen gewesen; für sie habe sich die Lage bis fast zuletzt als relativ stabil dargestellt, Die unübersehbaren Signale einer sich rapide beschleunigenden Erosion nicht wahrzunehmen – das resultierte aus der Lebensferne der Honecker & Co., die alle Warnungen und Bedenken in den Wind schlugen. Im Gefühl, letztlich könne ihnen nichts passieren, organisierten sie eine Rundum-Verteidigung gegen die zahlreichen Einzelaktionen der Bürgerrechtler, versuchten sie, jede für sich zu bekämpfen, ohne den Zusammenhang – die allgemeine Unzufriedenheit – zu erkennen. So konnte zwar mit Hilfe des Repressionsapparates da und dort die Kritik eingedämmt, mundtot gemacht werden; an der verschärften Gesamtlage änderte das nichts – im Gegenteil, sie spitzte sich weiter zu. 

Die erste umfassende »Information über Aktivitäten feindlicher Personenkreise im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989« legte die Bezirksverwaltung Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bereits am 15.2.1989 vor. »Nach den der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin vorliegenden Informationen«, hieß es da, »beschäftigen sich feindliche Personenkreise aus der Hauptstadt der DDR, Berlin, seit Ende 1988 intensiv mit verschiedenen Problemen, die die Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 betreffen.« Und dann wurde detailliert über diese Aktivitäten berichtet, zum Beispiel so: !«Insbesondere Führungskräfte des politischen Untergrundes, unter Mitwirkung von Antragstellern auf ständige Ausreise, befassen sich verstärkt mit Fragen der sozialistischen Demokratie, darin eingeschlossen das Wahlgesetz der DDR … Diese Personenkreise haben die Absicht, unter der Behauptung der Mitwirkung an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR mit staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen einen Dialog zu führen und Forderungen feindlicher Kräfte nach destabilisierenden Veränderungen unter Missbrauch demokratischer Wirkungsmöglichkeiten einzubringen. In mehreren internen Treffen berieten diese Personenkreise konkrete Vorgehenweisen unter Missbrauch des Wahlgesetzes der DDR. So wurden mehrere Schriften mit dem Ziel verfasst und verteilt, das Wahlgesetz der DDR in ihrem Sinne zu erläutern, vor allem, um dessen Möglichkeiten für feindliche Zwecke auszuschöpfen … Weiterhin beabsichtigen diese Personenkreise, ›unabhängige Kandidaten‹ für die Wahlen vorzuschlagen … Weitere Vorhaben feindlicher Personenkreise beinhalten die Teilnahme an Wahlversammlungen, wo sie ihre Ziele öffentlich verbreiten wollen … Von feindlichen Personen darüber hinaus geplante Aktivitäten umfassen die Durchführung eigener Veranstaltungen mit thematischen Bezügen zur Wahl sowie die Beteiligung an der Arbeit der Wahlkommissionen und die Überwachung der Stimmenauszählung, um ›Fälschungen und Manipulationen‹ des Wahlergebnisses zu verhindern.«

Dass diese Information zur Kenntnis genommen und durchaus im Sinne des Absenders bewertet wurde, zeigte eine bereits am 6. März 1 989 erarbeitete »Konzeption zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit im Zeitraum der Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen im Mai 1989«. Sie belegt schon im ersten Abschnitt die ganze Absurdität des Vorgehens der damaligen DDR- Führung: »Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 verkörpern im vierzigsten Gründungsjahr der DDR das wichtigste gesellschaftspolitische Ereignis. Diese Wertung ist Anlass, im Wohnbezirk ein Kontrollsystem durch gesellschaftliche Kräfte zu organisieren, welches Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vorbeugen und subversive und kriminelle Handlungen gegen einen ordnungsgemäßen Wahlablauf verhindern soll.« Sodann folgen detaillierte Festlegungen an die Hausgemeinschaftsleitungen (HGL) zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit im Wohngebiet, u. a. zum »rechtzeitigen Erkennen von Schmierereien mit staatsfeindlichem, antisozialistischem und defätistischem Inhalt« und zur Organisierung einer entsprechenden Streifentätigkeit. Dazu heißt es wörtlich: »Im Zeitraum vom 5. Mai 1989, 19 Uhr, bis 7. Mai 1989, 19 Uhr, wird der Wohnbezirk durchgängig mit jeweils zwei Mitgliedern der Kommission gesichert. Der Einsatz erfolgt im 6-Stunden-Rhythmus. Die Sicherung erfolgt durch Streifen- und Beobachtungstätigkeit.«

Auf berechtigte Anliegen, der Bürger und alternativen Bewegungen reagierte der Staat also einmal mehr mit einem Festerzurren der Sicherheitszügel. Dabei hatten sich die Bürgerrechtler zunächst um eine konstruktive Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen bei der Wahlvorbereitung bemüht. So wandte sich eine Initiativgruppe der Berliner Bartholomäusgemeinde bereits zu Pfingsten 1988 mit einem »Brief an Christen in der DDR und ihre Gemeindevertretungen« und benannte Wahlsystem und Wahlverfahren ausdrücklich als wichtige Bestandteile einer Demokratiserung der Gesellschaft. Die Autoren – unter ihnen Ibrahim Böhme, Wolfgang Ullmann, Hans-Jürgen Fischbeck und Almuth Berger – formulierten die Erwägung, ob nicht auch kirchliche Gruppen das Recht zur Kandidatennominierung einfordern sollten. Dies bekräftigte der Initiativkreis im Januar 1989 mit der konkreten Anfrage: »Sollte nicht, was für Kleingärtner, Sportler oder Feuerwehrleute gilt, auch für Friedens- und Umweltgruppen gelten?«

In einem Aufruf des Friedenskreises der Berliner Erlösergemeinde vom Januar 1989 hieß es, man sehe sich »in einer Meinung mit dem ZK der SED, auf dessen 7. Tagung Erich Honecker mitteilte: ›Wir reden nicht nur von Demokratie, wir entfalten sie auf sozialistischer Grundlage.‹ Zeichen der Zeit in unserem Land mahnen uns, Erich Honecker beim Wort zu nehmen und ihn tatkräftig zu unterstützen.« Bei aller hintersinnigen Ironie dieses Begehrens enthielten die folgenden praktischen Vorschläge doch diskutierbare Anregungen auch für Leute mit einem DDR-sozialistischen Demokratieverständnis.

Sie stießen aber auf strikte Ablehnung und die Bürgerrechtler auf eine massive Behinderung ihrer Aktivitäten. Das zeigte sich besonders bei den Bemühungen, an öffentlichen Wahlversammlungen teilzunehmen und dort mit eigenen – inhaltlichen wie personellen – Vorschlägen aufzutreten. Wie sich so etwas im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg abspielte, schilderte ein Augenzeuge in den Umweltblättern: »Nur mit Mühe (. . . ) waren Termin und Ort der Veranstaltung für den Stadtbezirk Prenzlauer Berg zu erfahren. Trotzdem waren am 29.3.89 zeitig (ungefähr 15 Minuten vor Veranstaltungsbeginn) ca. 150 Bürger vor dem Gebäude des Rates des Stadtbezirks in der Fröbelstr. versammelt. In dieser Zeit kamen nur noch einige Bürger in das Gebäude hinein, die über gedruckte Einladungen verfügten. Die Tür des Gebäudes wurde von drei Herren abgesperrt, denen eine zunächst erstaunte, dann aber zunehmend verärgerte Menge gegenüberstand. Die stoische Antwort auf das Einlassbegehren von Bürgern (unter denen sich auch Abgeordnete und Besitzer von Einlasskarten befanden) war – der Saal wäre voll, im Nebengebäude würde die Veranstaltung über Lautsprecher übertragen.«

Im Saal selbst setzte sich dann die Manipulation fort: »Im Verlauf der Versammlung kam zur Diskussion, dass in drei Fällen Veränderungen an den Kandidatenlisten beschlossen worden waren, in den Listen für den Stadtbezirk jedoch die ursprüngliche Form unverändert vorliegt. Erst auf die Frage, weshalb die Beschlüsse auf der Wahlkreisebene ignoriert worden wären, kam eine Erklärung: In zwei Fällen hätten sich durch die Veränderung der Listen auch Veränderungen in der Anzahl der Mandatsträger ergeben, was natürlich nicht ginge.. Im dritten Fall handele es sich um Dr. Adler von der Akademie der Wissenschaften, mit dem der Redner am gleichen Tag telefoniert hätte. Dr. Adler wäre ganz zufrieden damit, wieder auf die Reserveplätze zurückzurutschen, weil er in der Gewerkschaft so engagiert wäre, dass er eigentlich keine Zeit habe. Dr. Adler war es auch nicht gelungen, in den Hauptversammlungsraum zu gelangen; es war deutlich, dass es ein Telefongespräch dieses Inhalts nicht gegeben hat. Es ist Dr. Adler nicht gelungen, persönlich oder über den ‚Telefonapparat im Lautsprechersaal eine Richtigstellung vorzutragen.«

Bei einigen kirchlichen und Bürgerrechtsgruppen führte dieses Verhalten staatlicher Stellen zur Schlussfolgerung, dass man nur durch einen Boykott der Wahlen sein Gesicht wahren könne. Solche Erwägungen stellte zum Beispiel die sächsische Synode im April 1989 an, und sie finden sich auch in einer Erklärung von vier Dutzend Bürgerrechtlern aus dem gleichen Monat. Sie kritisieren darin Wahlsystem und Wahlverfahren und resümieren: »Die Ergebnisse der Wahlen in der DDR dienen dazu, die tatsächlichen Verhältnisse zu verschleiern und ein Einverständnis innerhalb der Bevölkerung mit der Politik der DDR-Regierung vorzutäuschen, das immer weniger gegeben ist. Die Offenlegung tatsächlich vorhandener Meinungs- und Mehrheitsverhältnisse bedeutet eine notwendige Voraussetzung für den breiten innergesellschaftlichen Dialog, den wir anstreben. Aus diesen Gründen erklären wir, dass wir an den Kommunalwahlen am 7. 5. 89 nicht teilnehmen werden.«

Andere wiederum wollten nicht auf diese Weise resignieren und planten, die Wahl bis zu ihrem Abschluss kritisch zu begleiten. Ihnen ging es vor allem darum, die Exaktheit der Auszählung zu kontrollieren, weil nach den Erfahrungen der Vorwahlzeit zu befürchten stand, dass auch hier zu Manipulationen gegriffen würde. Jochen Wiegend, Ex-Oberst im MfS, berichtete später, dass darüber exakte Kenntnisse vorlagen. Pfarrer Eppelmann zum Beispiel hatte an Gemeindemitglieder, die sich an der Kontrolle der Auszählung beteiligen wollten, Zettel ausgegeben, in die Ergebnisse der einzelnen Wahllokale eingetragen v/erden sollten. Sie liefen dann noch am Abend des 7. Mai bei ihm zusammen, wurden, in den Computer gegeben, und so hatte die Kirche schnell einen Überblick über das Ausmaß der Manipulation. Das damalige Politbüro-Mitglied Werner Jarowinsky, das über die Vorhaben der Kirche frühzeitig informiert war, ignorierte die Warnungen. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte!

Die Prüfungsaktion beschränkte sich aber nicht auf Bürgerrechtler und Kirchenleute, sondern gingen weit darüber hinaus; auch viele SED-Mitglieder waren beteiligt. Sie, die beipielsweise zum Teil deswegen zur Auszählung der Stimmen gingen, um die Richtigkeit des Wahlergebnisses gegen die ihnen als Störenfriede suggerierten Bürgerrechtler zu bezeugen, stellten mit Entsetzen fest, dass tatsächlich getäuscht und verfälscht wurde. Sie machten Eingaben an ihre Parteisekretäre, ihre Leitungen, sogar ans Zentralkomitee, erhielten aber keine oder nur ausweichende Antworten. Einige wurden beschworen, angesichts der komplizierten Lage stillzuhalten, andere erlebten, dass sich die Staatssicherheit intensiv für sie zu interessieren begann. Für viele der bisher gegenüber der Partei Gläubigen war dies eine Initialzündung, die sie zu grundsätzlichem Zweifel veranlasste und .auch die Bürgerbewegung in einem anderen Licht sehen ließ.

Für die Staatssicherheit waren natürlich all diese demokratischen Bekundungen nichts anderes als »provokatorisch-demonstrative Aktivitäten«, und die im Wahlgesetz ausdrücklich festgelegte öffentliche Auszählung der Wählerstimmen wurde von ihr faktisch kriminalisiert. In ihrem Bericht an die Partei- und Staatsführung hieß es: »Internen Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zufolge wurden insbesondere Mitglieder sogenannter kirchlicher Basisgruppen und Antragsteller auf ständige Ausreise erkannt, die sich zur ›Kontrolle‹ bzw. ›Überwachung‹ der Wahlhandlung und Stimmenauszählung in Wahllokalen befanden.«

Diese Gruppen stellten Wahlmanipulationen in beträchtlichem Ausmaße fest. In Berlin dokumentierten sie diese für die Stadtbezirke Weißensee, Friedrichshain und Prenzlauer Berg und formulierten eine Eingabe gegen die Gültigkeit der Kommunalwahlen. Obwohl sie die in Sonderwahllokalen bereits vor dem Wahltag abgegebenen Stimmen nicht erfassen konnten (sie machten allein in Weißensee etwa ein Drittel aus) und außerdem auch nicht in allen Wahllokalen präsent waren, ermittelten sie durchweg eine höhere Gesamtzahl von Nein-Stimmen bei ihren Beobachtungen als bei der offiziellen Verkündigung des Wahlergebnisses für den gesamten Stadtbezirk genannt wurden So zählten sie in Weißensee (ohne Sonderwahllokale) 2224 Gegenstimmen, während nur 1011 veröffentlicht wurden. In Friedrichshain betrug die Differenz gar 4919 zu 1611, und selbst in Prenzlauer Berg, wo nur in einem Drittel der Wahllokale kontrolliert worden war, ermittelten die Bürgerrechtler 2659 Gegenstimmen, während es im gesamten Stadtbezirk – nach offizieller Darstellung – nur 1998 gewesen sein sollen.

Ähnliche Diskrepanzen gab es im ganzen Land; sie wurden nicht mehr hingenommen. Insgesamt 800 Eingaben und Einsprüche wurden an die Verantwortlichen für die Wahl gesandt, natürlich ohne jeden Erfolg. Denn schon unmittelbar nach der Wahl hatte Mielke angewiesen, wie zu reagieren sei. »Die Partei verlangt von uns«, so erinnerte sich Wiegand an seine Worte, »gegen diese feindlichen Aktivitäten entschlossen vorzugehen«. Und der Befehl wurde – wie stets – widerspruchslos erfüllt. Am 19. Mai gab das MfS detaillierte Hinweise heraus, wie gegen die Eingaben, aus seiner Sicht »provokative rechtswidrige Handlungen«, vorzugehen sei: »1. Wird festgestellt, dass Personen die Ergebnisse der Kommunalwahlen in der Öffentlichkeit herabwürdigen, sind entsprechende Prüfungshandlungen einzuleiten … 2. Sachlich gehaltene Eingaben, andere Schreiben oder Erklärungen zum Wahlergebnis an staatliche Organe sind den örtlichen Wahlkommissionen zu übergeben. Die Sekretäre der Wahlkommissionen werden wie folgt antworten: ›Die Wahlkommission hat anhand der von den Wahlvorständen entsprechend § 39 Absatz 1 des Wahlgesetzes exakt gefertigten Niederschriften die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen geprüft, das Wahlergebnis festgestellt und veröffentlicht. Dem ist nichts hinzuzufügen.‹ Auf jeden Fall ist zu vermeiden, dass zur Sache selbst oder zu den angeblichen Fakten argumentiert wird. Schreiben, die vorher den westlichen Medien übermittelt worden sind, werden nicht bearbeitet … Anzeigen, die nach § 211 Strafgesetzbuch erstattet werden, sind ohne Kommentar entgegenzunehmen. Nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung ist von dem jeweils zuständigen Organ zu antworten, dass keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen. Außerdem ist auf die offizielle Verlautbarung über die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen zu verweisen. Beschwerden gegen die getroffenen Entscheidungen sind gemäß § 91 StPO zu bearbeiten und abschlägig zu entscheiden.« Und dazu kamen die speziellen »Maßnahmen« der Sicherheitsorgane selbst: »Die Leiter der operativen Diensteinheiten haben zu sichern, dass die gründliche operative Durchdringung feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Personenkreise vor allem mit dem Ziel erfolgt, weitere beabsichtigte Aktivitäten zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen t rechtzeitig zu erkennen und vorbeugend zu verhindern. Bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen sind operative Personenkontrollen durchzuführen bzw. diese Personen in operativen Vorgängen zu bearbeiten.«

Dabei wusste das MfS ganz genau, dass die Wahlresultate geschönt waren, denn seiner lückenlosen Beobachtung war die Zunahme der Gegenstimmen nicht entgangen. In einem Bericht beschrieb es das so: »Feindliche, oppositionelle Kräfte, die im Verhältnis zu vorangegangenen analogen Anlässen in größerer Zahl an den Wahlen teilnahmen, und ein erheblicher Anteil von Antragstellern auf ständige Ausreise, die im Zusammenhang mit der Wahlhandlung als solche erkannt wurden, suchten die Wahlkabinen auf und nahmen Streichungen einzelner bzw. aller Kandidaten vor.« Und auch Egon Krenz bestätigte in einem Gespräch nach der Wende faktisch, dass es am 7. Mai 1989 zu Wahlfälschungen kam. Zwar blieb er bei seiner Behauptung, er habe niemals Anweisung dazu gegeben, das Wahlergebnis zu manipulieren und das der zentralen Wahlkommission übermittelte Resultat exakt feststellen lassen, aber auf dem Weg dahin hält er manches für möglich: »Seit 1950 hatten sich Mechanismen herausgebildet, daß das Wahlergebnis jeweils mindestens so gut wie vorher sein sollte. Dazu brauchte man keine zentralen Beschlüsse; das war Bestandteil der Zahlenhascherei, die es ja auf vielen Gebieten gab.« Er räumte jedoch ein, dass – auch durch ihn – die Hartnäckigkeit der oppositionellen Gruppen bei der Überprüfung der Wahlergebnisse unterschätzt worden sei und man deshalb falsch reagiert habe.

Die Bürgerrechtler jedenfalls ließen sich durch die Zurückweisung ihrer Kritik nicht beirren. Sie spürten die Zunahme des Unmuts auch in der Bevölkerung, der schon am Wahltag deutlich zum Ausdruck gekommen war. So stellte die Staatssicherheit in ihrem Rapport über den Wahlablauf fest
» – verstärkte Nutzung der Sonderwahllokale für die Durchführung der Wahlhandlung,
– eine Zunahme der Zahl von Personen, die zur Durchführung der Wahlhandlung die Wahlkabinen aufsuchten, darunter ein erheblicher Anteil von Personen bis 25 Jahre sowie religios gebundene Kräfte,
– eine Zunahme der Zahl von Personen, die ungültige Stimmzettel abgaben bzw. gegen die Kandidaten der Nationalen Front stimmten und mehrfach Wahlscheine mit zusätzlichen Texten versahen.«

Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit beschlossen die Oppositionellen, durch weitere Aktionen wieder und wieder den Wahlbetrug anzuprangern, auch wenn das noch immer gefährlich war. Besonders jüngere, neu zur Opposition gestoßene Unzufriedene wollten sich auf keine Kompromisse mehr einlassen. »Von diesen neuen Leuten, die sich hier engagierten, hatte ich hohen Respekt«, sagte Manfred Stolpe, damals Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, später dazu, »Das waren. auch aus dem kirchlichen Bereich solche, die über die Vorstellungen der etablierten Gruppen hinausgingen. Diese waren zum Teil schon oder noch zu vorsichtig und wurden dafür kritisiert.«

Im ganzen Land kam es zu Protesten. In Leipzig artikulierten sie sich schon bei einem Gottesdienst in der Nikolaikirche am 8. Mai. Auch in anderen Städten wurden offene Aufragen an den Staat gerichtet. Am 7. Juni, genau einen Monat nach der Wahl, trafen sich Berliner Oppositionelle vor dem Konsistorium der Evangelischen Kirche in der Neuen Grünstraße. Sie planten einen Schweigemarsch zum Staatsratsgebäude, wo sie eine Eingabe gegen die Wahlmanipulation abgeben wollten. Doch die Staatssicherheit war rechtzeitig zur Stelle. Sie hatte schon am Tage zuvor sogenannte Vorbeugungsgespräche mit 18 Organisatoren des Marsches geführt, »in denen ihnen die Auflage erteilt wurde, sich an dem geplanten Vorhaben nicht zu beteiligen«. Am 7. Juni kontrollierte das MfS permanent die Umgebung des Konsistoriums und hatte ein besonderes Auge auf ca. 160 Bürgerrechtler, die bereits auf der schwarzen Liste des Ministeriums standen. 48 von ihnen wurden festgenommen, weil sie »zum für die Provokation vorgesehen Zeitpunkt versuchten, in die Neue Grünstraße zu gelangen und die entsprechende Weisung der Einsatzkräfte zur Umkehr negierten«.

Als die Organistoren merkten, dass der Protestmarsch nicht stattfinden konnte, setzten sie für den Abend eine Informationsveranstaltung in der Sophienkirche an. Dort berichteten zwei Pastoren über das Geschehen am Konsistorium und stießen dabei auf zunehmende Ungeduld der Versammelten. Sie wollten nicht länger – abgeschlossen in kirchlichen Räumen – ihre Wunden lecken, sondern ihrer Stimme öffentlich Gehör verschaffen. Trotz Warnungen der Kirchenleute setzte sich bald die erste Gruppe der 150 bis 200 Anwesenden zu einem Demonstrationszug in Bewegung, der natürlich sofort auf massiven Polizei-Widerstand traf. Wurde erst noch versucht zu verhandeln und die Genehmigung eines friedlichen Aufmarsches zu erreichen, so zeigte der Staat bald seine geballte Faust. Die Umweltblätter schilderten die Vorgänge: »Währenddessen waren auf der linken Seite 5 LOs und ein Toniwagen der Polizei vorgefahren, und auf der den Demonstranten gegenüberliegenden Straßenseite ballten sich 150 – 200 Stasi-Leute. Von der Polizei war das Kommando ›Absitzen! Gummiknüppel! Einsatz!‹ zu hören. Nach der offiziellen Aufforderung, den Platz zu verlassen, drängen sofort 10 bis 20 Polizisten auf der linken Seite der sitzenden Menschentraube ein, während die gesamte Masse der Stasi-Leute, ebenfalls mit Gummiknüppeln ausgerüstet, in der Mitte einen tiefen, dicht gestaffelten Keil bildeten. Unter ihnen waren viele, die die Gummiknüppel benutzten, und an den Haaren wurden die Sitzenden hochgezerrt und in drei rechts stehende Stasi-Busse geschleppt. Auch die Polizei war von unerhörter Brutalität. Die größte Masse der Demonstranten blieb sitzen und wehrte sich nicht. Nur wenige ließen sich von den brutalen Exzessen der Sicherheitskräfte provozieren. Ihr Einsatz war eindeutig MfS-geleitet und wurde von dessen Offensive gekennzeichnet. Der Stasi-Keil wurde bis zum Tor des Sophiengeländes vorgetrieben. Alle, die sich bis dahin nicht auf das Gelände zurückgezogen hatten, etwa 75 bis 80 Leute, wurden abtransportiert. Beobachtet wurde die Abfahrt von zwei gefüllten Stasi-Bussen, so dass man mit der Festnahme von etwa 150 Leuten rechnen muss. Nach diesen Festnahmen zogen sich die Stasi-Leute wieder auf die gegenüberliegende Straßenseite zurück. Verhandlungen der Pfarrer über die Freilassung der Festgenommenen erwiesen sich als fruchtlos. Es kam zu gegenseitigen Beschimpfungen. Ein Stasi-Mann in gelbem Blouson: ›Ihr paar Leute. Wir holen noch eine Hundertschaft ran, und dann hauen wir euch richtig!‹«

Dennoch kam es einen Monat später, am 7. Juli, erneut zu Aktionen, und diese wiederholten sich an jedem folgenden 7. des Monats – bis in den Herbst hinein, wo sie in die großen Massendemonstrationen mündeten, die die V/ende herbeiführten. Aber auch zwischendurch war die Kritik am Wahlbetrug nie verstummt; er erwies sich als jener berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und vielen im Lande endgültig die Augen öffnete, mit welcherart Führung sie .es zu tun hatten. Auch der damalige Berliner evangelische Bischof Dr. Forck sah in den Auseinandersetzungen um die Kommunalwahlen den Beginn einer neuen Qualität des Protestes gegen die offizielle Politik: »Hätte der Staat eine vernünftige Wahl zugelassen und echte Ergebnisse mitgeteilt, wären vielleicht nur eine achtzigprozentige Teilnahme und etwa zehn Prozent Gegenstimmen herausgekommen. Indem er aber in alter Weise verfuhr und alle Einsprüche abwehrte, jede Unregelmäßigkeit abstritt und die Kritiker verleumdete, indem er sich so stur verhielt, löste er neue Proteste, neue Aktionen aus.«

Forck stellt diese Ereignisse in eine Reihe mit den Protesten gegen die offizielle DDR-Haltung zur Niederschlagung von Studentendemonstrationen in China Anfang Juni des gleichen Jahres. »Auch hier«, so sagte er, »hätte der Staat eine maßvolle Stellungnahme abgeben können, mit dem Ausdruck des Bedauerns, aber die eindeutige Erklärung für die chinesische Führung und die Darstellung der Ereignisse in Form einer Gräuelpropaganda lösten bei vielen Menschen die Frage aus: Wo leben wir eigentlich?«

Doch der Staat war zu gemäßigter Reaktion schon lange nicht mehr in der Lage. Jede Äußerung von Unmut und Protest wurde mit drakonischen Maßnahmen beantwortet. Das mussten auch die jungen Leute erfahren, die auf das Massaker in China mit einem sogenannten Trommelfasten und Klagegottesdiensten als Zeichen ihrer Trauer reagierten. Der Staat intervenierte massiv bei
der Kirche, diese Aktionen sofort zu unterbinden und drohte unverhüllt Zwangsmaßnahmen an. Er erreichte jedoch nur, dass die Außenwirkung dieser Demonstrationen begrenzt blieb; sie selbst konnte er nicht unterbinden. Wie die Staatssicherheit in ihren Berichten feststellte, »… waren beide Veranstaltungen geeignet und darauf ausgerichtet, die Politik der DDR, insbesondere die Informationspolitik, zu verunglimpfen, feindliche, oppositionelle Kräfte und deren Sympathisanten/Mitläufer politisch negativ zu beeinflussen sowie den in jüngster Zeit feststellbaren zunehmenden Aktionismus derartiger Kräfte weiter zu fördern«.

Tatsächlich gingen die Trommelaktionen mit Kundgebungen vor allem vor der chinesischen Botschaft in Pankow einher, gegen die die Staatssicherheit in der schon gewohnten Weise einschritt. Auch hier wieder ein Bericht der Umweltblätter : »Im Zusammenhang mit dem Terror gegen Studenten und Bevölkerung in China kam es in Berlin zu zahlreichen Demonstrationen mit dem Ziel der chinesischen Botschaft. Ziel war jeweils die Überreichung von Protesterklärungen gegen den Terror der Sicherheitsorgane … Gemeinsam ist, dass jeweils bis zu 50 Passanten an unterschiedlichen Punkten der Strecke zur Botschaft festgenommen wurden. Besonders brutal war das Vorgehen der Sicherheitsorgane am Donnerstag, den 22. Juni, als etwa ein weiterer Zug von der Pankower Kirche in Richtung chinesische Botschaft aufbrach. Während früher Pfarrer und kirchliche Angestellte völlig unbehelligt blieben, wollten die Sicherheitsorgane diesmal offenbar ein Exempel statuieren. Zwei engagierte Diakone wurden verletzt, der eine, während er festgenommen wurde und bewusst mit dem Kopf auf den Boden geschlagen wurde. Die Kopfwunden und eine Gehirnerschütterung ›infolge polizeilicher Einwirkung‹ wurden von einem Arzt bestätigt. Der andere wurde während der Vernehmung nackt ausgezogen und zusammengeschlagen, und zwar in der bewussten ›geschickten‹ Art, die höchstens als blaue Flecken resp.. späterer Leberschaden sichtbar ist.«

Aus diesen verschärften Repressionsmaßnahmen wird die wachsender Nervosität der Partei- und Staatsorgane sowie ihrer Sicherheitskräfte erkennbar. Denn nicht nur gegen die« offenen Proteste gegen die Politik der Führung war diese zunehmend machtlos, sondern mehr noch gegen eine andere Form der Verweigerung – die sprunghaft steigenden Ausreiseanträge. Schon im Oktober 1988 hatte Manfred Stolpe auf die Zuspitzung dieses Problems aufmerksam gemacht: »Man hat in der Gesellschaft verkannt, dass die äußere Anpassung an die Verhältnisse dennoch innere Abwendung ermöglicht. Das ist offenbar in nicht wenigen Fällen geschehen, dass Menschen sich äußerlich total angepasst haben bis hin zum Kirchenaustritt. Und aus diesem Kreis kommt die Masse der Antragsteller. Diese Menschen haben sich innerlich abgewendet und ihr Herz bereits über die Mauer geworfen. Das ist meines Erachtens eine ganz zentrale Frage an die Gesellschaft: Was wurde falsch gemacht, dass Menschen zu solchen Haltungen kommen, dass sie zu solcher Anpassung erzogen und verbogen wurden? Jetzt rächt sich das.«

(Zur Ausreisewelle aus der DDR und zur Widerspiegelung der sich beschleunigenden Erosionsprozesse in ihren Medien folgt demnächst ein zweiter Teil.)

3 Replies to “Vor 20 Jahren – Wahlmanipulation und Ausreisewelle befördern die Erosion eines Staates (Teil 1)”

  1. Man sollte die frühere DDR und das SED-Regime auch nach bereits zwanzig vergangenen Jahren also nicht in einem verklärenden Licht sehen.

    Das tun die linken Kritiker der heutigen Politikerkaste im vereinten (Groß?-)Deutschland in der Regel wohl auch nicht. Hierbei geht es vielmehr darum, die politisch-ideologische Verbohrtheit und die partielle Realitätsblindheit ähnlich wie einst die der selbstherrlichen SED-Granden aufzudecken und anzuprangern.

    Ob es auch anno 2009 in der Bundesrepublik Deutschland erneut zu einem „Aufstand“ der Massen gegenüber der unverantwortlichen Klientel- und Krisenpolitik der ökonomischen und politischen Machteliten kommen wird, bleibt vorerst abzuwarten. Die manifeste Krise des bestehenden marktfundamentalistischen Wirtschaftssystems ist ja erst im Anrollen. „Nichts genaues weiß man nicht“ und schon gar nicht wollen die Verantwortlichen etwas von „sozialen Unruhen“ wissen. Ruhe ist hüben wie drüben die erste „Bürgerpflicht“ des deutschen Michel. Wie sie sich doch gleichen, die „Unrechtsregime“!

  2. In meinem Zweit-Blog http://tageundjahre.de/, d.i. mein Tagebuch aus DDR-Zeiten, bin ich jetzt auch bei der Kommunalwahl 1989 angekommen. Manche Erfahrungen/Beobachtungen sind deckungsgleich, manche nicht.

    Ich hoffe, der Untergang der DDR lehrt uns etwas zur Krise des Kapitalismus.

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